Hier Schaf, da Betreuer

Anke Engelke in CHRISMON 9/2020

„Der Herr ist mein Hirt“ sang ich im Schulchor und fühlte mich geborgen – auch wenn der Psalm in Rätseln sprach. Vorsichtshalber Packungsbeilage direkt am Anfang: Das ist kein Text für Menschen mit Agnostikerunver- träglichkeit oder einfach schlechter Laune. Bitte lesen Sie nur weiter, wenn man bei Ihnen nicht bibelfest sein muss, um sich mit einem Satz aus der Bibel auseinander- setzen zu dürfen. O. k. Geklärt. Also.

Psalm 23, der Herr ist mein Hirte. Als ich diesem Satz das erste Mal begegnete, wusste ich nicht, dass das der bekannteste Psalm aus der Bibel ist. Ich erfuhr erst später, dass es dem Verfasser David um das Bild der Nähe ging und um die geradezu persön- liche Betreuung: Hier Schaf, da Betreuer. Hier Hunger und Durst, da Gras und Wasser. Happy End.

Als ich aufs Gymnasium kam, durfte ich endlich mit- machen im Schulchor, in dem meine große Schwester sang, und ich weiß nicht, wieso: Die kirchlichen Lieder fand ich immer am besten! „Wir machen’s wie die Sonnen- uhr, wir zähl’n die heit’ren Stunden nur“ – das war ein flotter Mitsinghit der „Sonntagskinder“, ja nun, aber ich habe mich nie, nie, nie mit dem Text auseinandergesetzt.

„Wir sind alle Sonntagskinder, trallalalalala“ – gesungen, nicht weiter drüber nachgedacht.

Wir sind nicht sonderlich religiös, die Konfirmation fand ich vor allem wegen des lässigen Unterrichts von Pfarrer Schaaf gut und wegen der schönen neuen Arm- banduhr zur Feier des Tages. Aber wenn wir im Chor „Der Herr ist mein Hirt“ sangen, passierte etwas mit mir.

Das Arrangement war saukompliziert und spannend, daran erinnere ich mich gut, auch nach 40 Jahren, denn die verschiedenen Stimmen rieben sich, wir sangen ver- setzt, gestuft, wartend, manchmal seltsam zart und dann komplett  aufbrausend, bebend, und  es  gab  gesang- lich gefährliche Klippen, auf die ich mich regelrecht freute. Und der Text. Lauter Einsilber, überall fehlten Buchstaben: „Hirt“? „Au“? Hä?! Und was bedeutet:

„Er weidet mich“? Ich war wirklich jung, andere Zeiten, nix kapiert, nicht mal die Einladung zum schlechten Witz erkannt, zum Beispiel über den Menschen als blödes Schaf, oder „Mir wird nichts mangeln“ – hahaha – ich werde nichts mangeln, also Wäsche mangeln vielleicht.

Der Text schob Bilder in meinen Kopf, die mir gefielen: grüne Wiesen, klar, Ruhe, Stille, aber auch: beschützt werden. In Sicherheit sein.

„Zuversicht“ hätte ich falsch buchstabiert, aber das war das Gefühl, das mir der Text vermittelte. Ich habe wohl gespürt, dass alles gut ist, im Chor, in der Schule, und dass ich mich auf meine Familie verlassen kann und dass auf mich aufgepasst wird.

Der Schulchor trat oft auf: Schützenfest, Altersheim, Schulaula, auch im TV. „Musik ist Trumpf“ war ein High- light! Aber wenn wir „Der Herr ist mein Hirt“ in einer Kirche sangen, fühlte ich mich trotz der uncoolen Chor- uniform gut. Erst die Stille, dann unsere Stimmen, dann der Hall. Überhaupt: unsere Stimmen, die hier in der Kirche einfach viel besser klangen als im Proberaum in der Schule: Ich kann das Gefühl immer noch abrufen.

Wenn ich heute mit dem Rad durch Köln fahre, entspannt und nicht nur während des Lockdowns total entschleunigt, dann singe ich leise und habe den Mut zum Improvisieren.

„Der Herr ist mein Hirt“ mit Improvisationen. Wenn das einer hört: puh. Nur habe ich jetzt andere Bilder im Kopf, und die Unbeschwertheit beim Singen ist futsch. Weil ich nicht mehr zehn bin und wir heute mehr wissen über den Zustand des Planeten und über die Zustände auf der Welt und viele von uns oft zweifeln und verzweifeln. Alles gut? Null. Und hier kommt mein Plan: Weitersingen! Gern

„Der Herr ist mein Hirt“, gern andere Lieder mit viel- leicht auch rätselhaften Bildern vom Beschütztwerden. Und durch die Auseinandersetzung das eigene Verhalten überprüfen. Die anderen anschauen. Anderen Sicherheit geben. Anderen friedliche Ruhe zugestehen oder sogar ermöglichen.